Umspannwerk

Musterfeststellungsklage gegen Energiediscounter

In seiner Kolumne kommentiert Nikolai Schmich normalerweise aktuelle Urteile und beantwortet die wichtigsten Fragen. In diesem „Ihr gutes Recht - spezial“ stellt er einmal selbst die Fragen. Die Antworten zum juristischen Vorgehen gegen den umstrittenen Billiganbieter „Stromio“ gibt der Chef der Verbraucherzentrale, Philipp Wendt.

Die Verbraucherzentrale Hessen (VZH) strengt eine Musterfeststellungsklage gegen den Energieanbieter „Stromio“ mit Sitz in Kaarst bei Düsseldorf an, der seine Kunden im vergangenen Herbst kurzfristig gekündigt und die Lieferung eingestellt hatte. Über die Gründe dafür, über das Verfahren selbst und was dabei herauskommen kann, hat unser Kolumnist Nikolai Schmich mit Philipp Wendt (Frankfurt am Main) gesprochen, der seit 2020 als Vorstand an der Spitze der VZH steht. Im Gespräch verrät er auch, was Betroffene jetzt tun können.

VF: Was sind die Gründe für die aktuelle Musterfeststellungsklage der Verbraucherzentrale Hessen, Herr Wendt?

Wendt: Der Energieanbieter Stromio GmbH hat Ende des vergangenen Jahres alle seine Kundinnen und Kunden vor die Tür gesetzt. Verträge mit zum Teil langen Laufzeiten wurden gekündigt. Dies war aus unserer Sicht klar rechtswidrig. Die ehemaligen Kunden sind dann in die Ersatz- und die Grundversorgung gefallen. Hier zahlen Sie deutlich mehr für ihre Energie, als ihnen Stromio vertraglich zugesagt hatte. Stromio gibt als Grund an, dass die Preisentwicklung im Energiemarkt sie zu der Kündigung gezwungen habe. Mit unserer Musterfeststellungsklage werden wir feststellen lassen, dass die Kündigung rechtswidrig war und dass die Einwände von Stromio rechtlich nicht durchgreifen.

VF: Und das konnten Sie als Verbraucherschützer nicht zulassen, oder?

Wendt: So ist es. Mit unserer Klage bieten wir Verbraucherinnen und Verbrauchern, die von der Kündigung betroffen sind, deswegen eine rechtliche Grundlage, um ihre Schäden geltend zu machen. Die Schäden sind die Mehrkosten, die durch die teurere Ersatz- und Grundversorgung entstehen.

VF: Hat eine Verbraucherzentrale genügend Manpower, um eine solche Musterfeststellungsklage zu stemmen?

Wendt: Wir setzen hier Prioritäten. Von den Kündigungen sind allein in Hessen Haushalte im fünfstelligen Bereich betroffen. Es ist uns bei der Verbraucherzentrale wichtig, dass diese nicht auf ihren Schäden sitzen bleiben. Einen derart unredlichen Energieanbieter können wir als Verbraucherzentrale auch nicht einfach mit seinem Verhalten durchkommen lassen. Die Musterfeststellungsklage führt zu einer deutlichen Belastung nicht nur unseres Teams Rechtsdurchsetzung, sondern auch bei allen Beraterinnen und Beratern und unseren Kolleginnen im Verbraucherservice. Um es klar zu sagen: Diese Musterfeststellungsklage können wir stemmen. Ich bitte aber um Verständnis, wenn das Telefon öfters mal besetzt ist oder die Beantwortung einer Anfrage länger dauert. Für die Zukunft es wichtig, dass das Land Hessen uns als Verbraucherzentrale für die Durchsetzung von Verbraucherrechten besser ausstattet. Aus Europa kommt im Jahr 2023 die neue EU-Verbandsklage, mit der wir künftig direkt auf Zahlung an die Verbraucherinnen und Verbraucher klagen können. Damit wir dieses wichtige Instrument im Interesse der Menschen in Hessen einsetzen können, brauchen wir die notwendigen Mittel.

VF: Warum sollen Betroffene bei der Musterfeststellungsklage mitmachen? Was springt für sie am Ende heraus?

Wendt: Bei der Musterfeststellungsklage klagt einer für viele. In diesem Fall klagt die Verbraucherzentrale Hessen für alle Personen, die sich in das Klageregister eintragen. Wer im Klageregister eingetragen ist, muss keinen Gerichtskostenvorschuss und keine Anwaltskosten zahlen. Das Kostenrisiko übernehmen komplett wir als Verbraucherzentrale. Das Urteil ist für alle bindend. Wenn wir gewinnen, steht fest, dass der Schadensersatzanspruch besteht. Das gilt für Stromio und - sollte Stromio nach dem Urteil nicht freiwillig zahlen - für alle Gerichte, die sich künftig mit dem Fall beschäftigen müssen. Die Musterfeststellungsklage hemmt auch die Verjährung. Wenn man im Klageregister eingetragen ist, brennt da auch nichts an.

VF: Es geht also um ein Klageregister. Man muss sich also nicht bei Ihnen melden, Herr Wendt?

Wendt: Nein, wer bei der Musterfeststellungsklage mitmachen möchte, muss sich nicht bei uns melden, sondern sich nach Klage-Erhebung in das Klageregister beim Bundesamt für Justiz eintragen. Wenn die Klage erhoben ist, eröffnet das Bundesamt für Justiz das Klageregister. Auf unserer Internetseite und in unserem Newsletter informieren wir, sobald das Klageregister eröffnet ist und geben Hilfestellung bei der Eintragung.

VF: Sie empfehlen Klagewilligen, dass sie sich den Newsletter abonnieren.

Wendt: Ja, denn dann bleiben sie stets auf dem Laufenden. Und dann erfahren sie auch, wann und wie sie zum Klageregister kommen.

VF: Was kostet das die Betroffenen?

Wendt: Die Teilnahme an der Musterfeststellungsklage ist für Verbraucherinnen und Verbraucher kostenfrei.

VF: Bekommt bei einem Erfolg jeder Kläger sein Geld direkt aufs Konto?

Wendt: Nicht direkt. Wenn wir die Klage gewinnen, ist verbindlich festgestellt, dass Stromio zum Ersatz der Schäden verpflichtet ist. Die Höhe des Schadens ist bei den ehemaligen Kunden jedoch sehr unterschiedlich. Zum einen zahlen sie verschiedene Preise in der Grundversorgung. Zum anderen haben sie unterschiedliche Verbräuche und hatten auch verschieden lange Vertragslaufzeiten mit Stromio. In der Beratung sehen wir überwiegend Fälle mit einer voraussichtlichen Höhe des Schadens zwischen 500 und 2.000 Euro. In Einzelfällen liegen die Beträge aber auch deutlich darüber. Deswegen müssen die Betroffenen in einem zweiten Schritt ihre Schäden berechnen und gegenüber Stromio geltend machen. Bei der Berechnung und bei der Durchsetzung werden wir sie unterstützen.

Portrait Philipp Wendt

Seit November 2018 gibt es in Deutschland die Möglichkeit, eine Musterfeststellungsklage (MFK) zu erheben. Die erste wurde von Verbraucherschützern gegen Volkswagen in der sogenannten „Diesel-Affäre“ angestrengt.

Es bestand ein großes Bedürfnis danach, bei Massenschäden die entscheidenden Rechts- und Tatsachenfragen im Vorhinein in einem Klageverfahren für alle betroffenen Verbraucher zu klären. Bei der MFK steht nicht der einzelne Verbraucher, sondern in der Regel ein Verbraucherverband auf Klägerseite.

Das angerufene Gericht trifft eine Entscheidung, nachdem es die vom Verband vorgebrachten Streitfragen und Argumente geprüft hat. Eine Anmeldung des Verbrauchers zu dieser Klage findet durch Eintragung in das Klageregister statt. Diese ist für den Verbraucher kostenlos und kann bis zum Ablauf des Tages des Beginns der mündlichen Verhandlung zurückgenommen werden (siehe § 608 Abs. 3 ZPO).“

Die MFK bündelt im Vergleich zur Sammelklage keine Klageansprüche, sondern regelt die Rechtsbeziehung zwischen der beklagten Partei und allen im Klageregister eingetragenen Verbraucherinnen und Verbrauchern abschließend. Einen etwaigen Zahlungsanspruch gegen die beklagte Partei müsste der Verbraucher im Vergleich zu der in den USA verbreiteten Sammelklage bei einer positiv beschiedenen MFK noch einmal gesondert geltend machen. (Nik)

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